Je mehr du versuchst zu überzeugen,
desto unglaubwürdiger wirst du.
Humberto Maturana
Das Leben wirklich wegwerfen?
Suizidprävention bei Jugendlichen
Dr. Heidi Vonwald und MSc Gerhard Fröhlich
Selbstmord! Was aber ist Selbstmord?
Ein Nein auf die Sinnfrage. (Viktor E. Frankl)
Die unerträgliche Sinnlosigkeit und Leere des Lebens kann auch junge Menschen in schweren Stunden motivieren, dass sie ihr lebensverneinendes Gedankenspiel mit einem geplanten Suizid durchdenken, um alle Sorgen radikal auslöschen und endlich Ruhe und Geborgenheit finden zu können. Von den sozialen und soziokulturellen Einflüssen besitzt das familiäre Vorbild einen starken Auslösecharakter, da die Idee zum Suizid oft von Generation zu Generation als „Problemlösung“ weitergegeben wird. Aus der Sicht der Logotherapie und Existenzanalyse ist es notwendig, um einen Weg aus der Verzweiflung zu finden, die einzigartige Lebensaufgabe auf dieser Welt bewusster zu machen, die uns inne wohnenden Be-GAB-ungen und Be-RUF-ungen zu erspüren und diese selbsttranszendent in diese Welt einzubringen. Auch braucht es den Paradigmen-Wechsel – in jedem Schicksalsschlag, der sich als Auslöser für einen Selbstmord anbietet, eine Herausforderung zu sehen, die Verpflichtung, den tieferen Sinn der Situation zu suchen, das Leben zu verantworten, einen Grund fürs Leben-Wollen wieder frei zu legen, das „Wozu leben“ wieder spürbar werden zu lassen. Denn:
Ein Leben, das sich verströmt, versiegt nie ganz. (Elisabeth Lukas)
Frankl verdeutlichte mit seinen bildhaften Metaphern, dass die Ebbe (die Krisensituation) zwar das Riff freilegt, aber die Ebbe nicht die Ursache für das Riff ist. Krisensituationen können sehr wohl als „Lerngeschenke“ interpretiert werden, die uns rufen, unsere Potentiale vermehrt zu entwickeln.
Des Lebens überdrüssig? Krisen werden häufig durch typische Lebenssituationen ausgelöst.
Die gesamte Entwicklung des Menschen verläuft von Beginn an nicht gleichmässig, sondern in unterschiedlich schnellen Schritten. Innerhalb eines neuen Entwicklungsabschnitts kann es zu nachhaltigen Veränderungen für die Jugendlichen kommen; diese Herausforderungen sind für die gesamte Entwicklung des Menschen von Bedeutung, da nur über diese – oft heiklen und kritischen – Phasen die nächste Entwicklungsstufe erreicht werden kann. Diese schwierigen Abschnitte sind in der Regel noch nicht mit Krisensituationen gleichzusetzen, jedoch können sie sich in ihren Verläufen zu psychosozialen Krisen zuspitzen. Die wahrscheinlich bedeutendste Entwicklungsphase eines Menschen ist die Pubertät; aus dieser Kenntnis heraus ist es sinnvoll, die Pubertäts- oder Adoleszenzkrise genauer unter die Lupe zu nehmen.
In dieser Zeit ist die Auseinandersetzung mit der genitalen Reifung der Sexualität und dem anderen Geschlecht ein zentrales Thema. Die damit verbundenen Enttäuschungen (Ent-Täuschung – die Vorführung der „Wahrheit“?) und Kränkungen können rasch erfolgen, wie auch vermehrte Selbstzweifel und Stimmungsschwankungen. Auf andere Menschen mag dies wie „Launenhaftigkeit“ wirken. Laien sind die tiefer liegenden Gründe meist nicht annähernd bewusst. Auch wird häufig „mehr des Selben“ getan, typisch „wenn die Lösung zum Problem wird“ (Paul Watzlawick).
Der junge Mensch ist auf der Suche nach für sich passenden Werten und Ideologien, kommt aber nicht an bestehenden Ideologien vorbei. Er erlebt dabei die ganze Spannbreite zwischen völligem Aufgehen im System oder Ausbruch. Spätestens in dieser Phase der Ambivalenz kommt es vermehrt zur Frage nach dem Sinn des Lebens.
Wie Frankl schon aufzeigte, wenn von Menschen nach dem Sinn des Daseins ausdrücklich gefragt wird, dann wurde an ihm auch schon irgendwie gezweifelt. Und dieser Zweifel an der Sinnhaftigkeit menschlichen Daseins führt leicht zur Verzweiflung und kann in Suizidideen enden. Die nahen Bezugspersonen reagieren nur all zu oft mit Hilflosigkeit, missverstehen die Symptome.
„Je mehr du versuchst zu überzeugen,
desto unglaubwürdiger wirst du.“
(Humberto Maturana.)
Auch wenn es in dieser Entwicklungsphase zu dramatischen Zuspitzungen kommen kann, bewältigen die meisten jungen Menschen diese ohne erhebliche Gefährdung für ihre weitere Entwicklung
Faktoren, die den Adoleszenzverlauf nachhaltig beeinflussen und gegebenenfalls zu Auslösern für Krisen werden können
(nach Gernot Sonneck):
Die emotionale Bindung in der Familie, das Ausmass an Vertrauen, Sicherheit und Geborgenheit. Negativ auswirkend sind ein autoritär-repressiver Erziehungsstil bzw. ein vernachlässigend-unbeachtender Umgang mit Kindern und Jugendlichen.
Paul Watzlawick ergänzt dazu: „In einer stabilen symmetrischen Beziehung sind die Partner imstande, den anderen in seinem Sosein zu akzeptieren, was zu gegenseitigem Respekt und Vertrauen in den Respekt des anderen führt und damit zu einer realistischen gegenseitigen Bestätigung der Ich- und Du-Definitionen.“
Die Identifikation mit der eigenen Geschlechterrolle sowie die Auseinandersetzung der genitalen Sexualität, der Männlichkeit bzw. Weiblichkeit.
Kontaktanbahnung zu Gleichaltrigen beiderlei Geschlechts. Probleme und Konflikte in der Herstellung und Aufrechterhaltung von Beziehungen können grössere Krisen auslösen („Liebeskummer“).
Erfolgs- oder Misserfolgserlebnisse bei der Suche nach Leit- und Vorbildern.
Bedürfnis nach Gruppennähe – ein Mitglied derselben sein - ist in dieser Zeit stark ausgeprägt, Gefahr der Vereinnahmung durch Sekten, Drogenkonsumkulturen und dgl.
Auseinandersetzung der Jugendlichen mit Normen und Werten der Gesellschaft.
Die Frage der Anpassung an gegebene Gesellschaftsnormen ist von hoher Bedeutung, nach dem Leistungsprinzip zu leben davon geht ein starker Druck aus. Andere Wertvorstellungen werden dadurch in den Hintergrund gedrängt.
Was bedeutet das konkret für den jungen Menschen? Es ist für ihn eventuell unter den aktuell wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen schwierig, sinnvolle Lebensinhalte zu finden. Die Situation am Arbeitsmarkt (Jugendarbeitslosigkeit – insbesondere in Lehrberufen), mit ihren erhöhten Leistungsanforderungen samt Existenzdruck, verbunden mit einem Freizeitangebot, welches nahezu kommerziellen Interessen dient, führt dazu, dass es für junge Menschen immer schwerer wird, Zeit und Raum für ihre ureigendste, einzigartige Entfaltung zu finden. Der Verlust der Traditionen unterstützt die Sinnfindungskrisen, das existentielle Vakuum. Und dennoch wissen wir, dass Menschen mit hoher Resilienz (lat. von resilire – sich wieder aufrichten) sich auch unter schwierigsten Bedingungen gesund entwickeln können. Die individuelle Lerngeschichte des Jugendlichen ist ein wesentlicher Faktor bei der Entstehung von Krisen:, Wie ging er mit früheren Krisen um, welche Erfahrungen konnte er aus der Bewältigung von Krisensituationen mitnehmen, die er sich in der aktuellen Krise zu nutzen machen kann.
Schon der Schüler von Martin Heidegger, Hans-Georg Gadamer wies auf die besondere Bedeutung des Innerlich-Ausgesöhnt-Seins hin: „Die innere Verfassung des Menschen und seine Gemeinschaftsfähigkeit sind im Grunde eins. Nur wer mit sich selbst Freund ist, kann sich dem Gemeinsamen einfügen. … Freundschaft mit sich selbst. Sie hat nicht zu tun mit Selbstliebe oder Eigenliebe, ja sie meint das genaue Gegenteil davon. Wer mit sich selbst nicht Freund, sondern mit sich selbst verfallen ist, ist gerade zu keiner Hingabe an andere und zu keiner Solidarität fähig. Hier scheint mir der tiefste Grund der Selbstentfremdung zu liegen, die wir im modernen Zivilisationsleben sich ausbreiten sehen, und umgekehrt liegt hier die unverlierbare Chance unser aller, inmitten der durch nicht zu beschönigen den Zwangsformen unserer modernen Gesellschaft die eigene Tätigkeit mit dem Bewusstsein eines eigenen Sinnes zu erfüllen.“
Klinische Diagnosen in der Adoleszenz werden immer wieder relativiert – Spontanheilung und Symptomwechsel sind gehäuft anzutreffen. „It is as you tell it. Es ist, wie Sie es sagen.“ (Heinz von Foerster). Wir wollen als professionelle HelferInnen weder stigmatisieren noch iatrogene Neurosen auslösen.
Aussage einer 17jährigen, suizidgefährdeten Patientin: „Ich bin eine Borderlinerin, deshalb habe ich die vielen Selbstmordversuche unternommen.“ Dies heisst wohl: Ich bin nicht verantwortlich, ich bin Opfer meiner Erkrankung/Diagnose/Kindheit.
In der Logotherapie und Existenzanalyse sehen wir die existentielle Bilanz
„Nicht, was hat das Leben mir gegeben –
sondern wer BIN ich GEWORDEN“.
(Elisabeth Lukas)
„Es kommt nicht darauf an, was die Kindheit aus uns gemacht hat,
sondern was machen wir aus dem, was sie aus uns gemacht hat.“
(Jean Paul Sartre)
Aber wir vergessen nicht, dass unverarbeitete Traumatisierungen über Generationen hinweg weitergegeben werden können. Beispiel der 15jährige Ali: Präsentiersymptom und Auslöser des Suizidversuches - er sprang aus dem 4. Stock des familiären Hotels, als sein Vater ihn gegen seinen Willen zwingen wollte, dass er an einer einwöchigen Schulveranstaltung teilnehmen muss. Ali war in der Klassengemeinschaft der Aussenseiter, als Gewalttäter auch bei den LehrerInnen nicht sehr beliebt. Er fühlte sich nur in der Nähe seiner Mutter sicher. Er litt sehr unter der emotionalen Unerreichbarkeit seiner Mutter, sie war stets überfordert, erschöpft und depressiv. Wie die Albträume von Ali aufzeigten, beschäftigte ihn massiv die traumatische Vergangenheit seiner Familie. Die Mutter war mit seiner Grossmutter im Jugoslawienkrieg geflüchtet, beide leiden an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), die zum damaligen Zeitpunkt, unbehandelt war, „da es anderen Personen noch viel schlimmer im Krieg erging“. Sie wollten nicht als verrückt gelten, da sie ohnehin schon unter unerklärlichen Angstsymptomen und unerwarteten Aggressionsausbrüchen litten. Die Information der Mutter über die Symptome einer PTBS machte die Öffnung für eine psychotherapeutische Behandlung - bei logotherapeutischen KollegInnen – möglich.
Kennzeichen psychosozialer Krisen beim jungen Menschen
Psychosoziale Krisen bei Jugendlichen verlaufen ähnlich wie beim erwachsenen Menschen, allerdings gibt es doch auch einige Besonderheiten (nach Gernot Sonneck):
In nahezu allen Krisen zeigen sich auch körperliche Beschwerden wie Schlafstörungen, Magen- und Darmbeschwerden, Kopfschmerzen, Abgeschlagenheit, Müdigkeit, oft als einziger Hinweis auf ein Krisenereignis.
Häufig beobachtbar sind Verhaltensänderungen: Veränderungen im Essverhalten (Appetitlosigkeit verbunden mit Gewichtsabnahme oder umgekehrt, Unmässigkeit beim Essen oft in Form von Attacken), Konzentrationsschwierigkeiten, Leistungsschwankungen oder gänzliches Leistungsversagen in Schule und Beruf, Abwendung von alten Freunden, Familie und Interessen, Abkapselung, Flucht in eine Traumwelt, Alkohol-, Drogen-, Medikamentenmissbrauch und dgl.
Regression in kindliche Verhaltensweisen, z.B. Fingerlutschen, Nägelbeissen.
Nicht bewältigte Krisen zeigen sich in verschiedenen Krankheitsbildern (z. B. Depression), Kurzschluss- und Aggressionshandlungen, z.B. Von-Zuhause-Weglaufen, Vandalismus, aber auch suizidale Handlungen.
Carina, 17 Jahre alt, hatte ihren Selbstmordversuch nur durch Zufall überlebt. Sie legte sich mit aufgeschnittenen Pulsadern auf die Gleise einer internationalen Zugstrecke. Was sie nicht wusste, es gab einen Schienenersatzverkehr, da die Strecke über den Arlberg immer noch gesperrt war, da die Aufräumungsarbeiten durch den nächtlichen Sturm noch nicht abgeschlossen waren. Ein Hund fand sie zur nächtlichen Stunde, der Hundebesitzer alarmierte die Rettung. Wohl: Zufall, der Ort, wo das Wunder nistet (Viktor E. Frankl). Durch ihre Melancholie konnte sie dem Leben schon lange nichts mehr abgewinnen. Als Carina in ihrer angestrebten Lehrstelle im Blumengeschäft nach der Probezeit nicht genommen wurde, da sie mit ihrer verträumten Art auch viel vergass, erschien ihr, dass der schon lang gehegte eventuelle „Ausweg“ durch sicheren Suizid (Überfahren durch den Zug), ihre Befreiung sein könnte; Endlich zur Ruhe kommen zu können.
Frankl spricht von der Trias des Versagens:
Arbeitsunfähigkeit
Genussunfähigkeit
Leidensunfähigkeit
Selbstvorwürfe und Vorhaltungen der Umwelt verstärken noch diese Insuffizienzen.
Umgang mit jungen Menschen in Krisen
Viktor E. Frankl organisierte 1930 eine Beratungsaktion für SchülerInnen zu Schulschluss – und erstmalig war in Wien kein einziger SchülerInnen-Suizid passiert.
Aus zahlreichen Forschungen wissen wir, dass in einer Psychotherapie mit der Beziehungsqualität alles steht oder fällt. In der Fachliteratur wird immer wieder davor gewarnt, als professionelle HelferInnen die Rolle des „Kumpels“ einzunehmen.
Irivin Yalom vertritt eine schöne Ansicht:
„Ich betrachte meine PatientInnen und mich am liebsten als gemeinsam mit mir Reisende. Ein Begriff, der die Unterscheidung zwischen „oben“ in der Hierarchie und „unten“ aufhebt.“
Die erste und wesentlichste Voraussetzung für eine zukünftig gelingende Arbeitsbeziehung in der Psychotherapie ist der Kontakt. Geduld und wertschätzende Zuwendung sind notwendig. Gespielte Gleichgültigkeit, Grossspurigkeit oder gar Feindseligkeit sind für Jugendliche häufige Verhaltensweisen, um die eigene Bedürftigkeit zu verbergen. Authentisches Bemühen, den jungen Menschen in seiner Einzigartigkeit zu verstehen, ist die einmalig richtige Antwort - nur so kann zur Mitarbeit motiviert werden und das notwendige Vertrauen hergestellt werden, als Basis für einen tragenden, nachhaltigen Veränderungsprozess.
Der Hinweis auf die zeitliche Begrenztheit der Krisenintervention ist insofern hilfreich, als der junge Mensch sich dadurch ein Gefühl der Kontrolle und Autonomie bewahren kann, da er sich nicht auf einen längeren Prozess einlassen muss, wenn er nicht möchte. Auch ein einmaliger Kontakt kann bereits wichtige Weichenstellungen ermöglichen oder die Option aufzeigen, sich zu einem späteren Zeitpunkt doch noch Unterstützung zu holen.
Es hat sich als günstig erwiesen, für das Erstgespräch genügend Zeit einzuplanen. Ein guter Zugang ergibt sich zumeist über Themen des Alltags bzw. über die Vorlieben der Jugendlichen. Das Interesse muss jedoch authentisch sein, sonst wirkt es anbiedernd.
Sebastian, 17 Jahre, sass bereits im Rollstuhl, als ich ihn kennen lernte. Aus seiner damaligen Sicht hatte er leider den Sprung mit seinem Snowboard in die Tiefe überlebt. Seine Mutter brachte ihn. Schon auf der Strasse, wo ich ihn abholte, sagte er mir, dass er mit mir nicht, absolut Nichts sprechen werde. Ich fand diese Paradoxie amüsant. Auf meine Frage, ob er zu mir in die Praxis möchte oder ins Café nebenan, wählte er das Café. Ich dachte: ein weiterer Erfolg. Was Sebastian nicht wusste, das Café gegenüber ist ein Behinderten-Café. RollstuhlfahrerInnen, die servieren. Im Café haftete sofort sein Blick an einer Zeitung über Traktoren. Über dieses Thema kamen wir in Kontakt. Er war der begeisterte Fachmann, der mein Wissen aufbesserte.
Ähnlich war es mit Janine, 16 Jahre, auch sie kündigte an, gar Nichts mit mir zu sprechen. Ich habe zwei Katzen. Janines Liebe zu Tieren war unser Türöffner.
Die Hirnforschung bestätigt uns, dass nur mit Begeisterung im Zellkern das neuroplastische Eiweiss gebildet werden kann, das für neuronale Umstrukturierungen, für Lernergebnisse erforderlich ist. Nachhaltige Lebensveränderung braucht echte Begeisterung, ein Sich-selbst-Vergessen-Können, ein volles Sich-Hingeben – wie Frankl schon lange erkannte.
Nicole, 17 Jahre, die Schulschwierigkeiten waren der Auslöser für den Suizidversuch. Die Psychotherapie legte offen: sie hatte grosse Sehnsucht ihren Vater kennen zu lernen. Dies gelang ihr schnell über Facebook. Er war ägyptischer Abstammung. Ihr Wunsch Arabisch zu lernen, um ihre „neue“ Verwandtschaft in Afrika besser kennen lernen zu können, war ihr ein enormer Antrieb.
Wir müssen selber brennen, wenn wir andere entzünden wollen.
Jugendliche haben in der Regel feine Antennen für die Echtheit und Kontinuität des Beziehungsangebotes und testen Bezugspersonen gerne daraufhin aus. Noch stärker ausgeprägt in der Bedeutung als bei Erwachsenen sind Diskretion und Verschwiegenheit. Junge Menschen müssen sich sicher sein, dass das Besprochene nicht an Dritte weitergegeben wird. Wo dies aufgrund der Rahmenbedingungen nicht möglich ist, ist klar zu benennen, welche Informationen weitergegeben werden müssen und in welcher Form dies geschieht.
Die Einschätzung des Gefährdungspotenzials kann sich oft schwierig gestalten, da die Adoleszenz allgemein durch Stimmungsschwankungen, Grössenideen, den gelegentlichen Verlust des Bezugs zur Realität und die Neigung zur Schwarz-Weiss-Malerei gekennzeichnet ist (Berger, 1999). Daher sind indirekte Hinweise, wie symbolische (Zeichnungen) oder schriftliche Äusserungen in der Risikoabschätzung besonders zu beachten. Keinesfalls darf übersehen werden, dass Jugendliche dazu neigen, Situationen und Konflikte zu beschönigen oder zu dissimulieren.
Gerade bei Suizidgefahr von Jugendlichen ist ein klarer und ungeschönter Blick auf die Bilder und Perspektiven des Todes, angebracht. Denn Selbstmord löst nie ein Problem, er ist auf keinen Fall – wie Frankl betonte – eine Antwort auf irgendeine Frage.
„Wir müssen ihm vor Augen führen, wie sehr er einem Schachspieler gleicht, der vor ein ihm allzu schwierig erscheinendes Schachproblem gestellt ist und – die Figuren vom Brett wirft.“
Immer wird dadurch nur das Unglück vergrössert, eventuell auf weitere Generationen das Problem ausgestreut.
„Und so wie jener Schachspieler sich nicht an die Spielregeln hält, genau so verletzt ein Mensch, der den Freitod wählt, die Spielregeln des Lebens. Diese Spielregeln verlangen ja von uns nicht, dass wir um jeden Preis siegen, wohl aber, dass wir den Kampf niemals aufgeben.“
(Viktor E. Frankl)
Frankls Appell:
„Ausserdem wer weiss, ob sich nicht schon Stunden nach einem Selbstmord,
das Problem gelöst hat?“
Auch lehnt er Selbstmord als „bewusst gebrachtes Opfer“ ab.
Für die Verhütung von Selbstmorden benennt Viktor E. Frankl besonders die Einstellungen:
Vom Seelischen her – Selbstmord-Prophylaxe – den jeweiligen seelischen Grund des Unglücklichseins aus der Welt schaffen und damit das Selbstmord motiv beseitigen.
Vom Geistigen her - Einstellungsmodulation – um nicht nur ohne das, was fehlt, weiter leben zu können, sondern daran wachsen zu können.
Orbach (1990) vertritt die Ansicht, dass es sinnvoll sei, durch ein offenes Gespräch die Todesfurcht zu erhöhen. Die Suizidgedanken werden als solche zwar akzeptiert und nicht verurteilt, aber die Realität und Irreversibilität des Todes sollte dem jungen Menschen bewusst gemacht werden, da
es den Todesmutigen, den Lebensfeigen (Frankl) niemals bewusst ist, dass sie dann wirklich tot sind – denn sie suchen nur die Ruhe und Geborgenheit, „dass es endlich zu Ende ist“.
Es gilt als gesichert, dass Suizide bei aufrechter, therapeutischer Beziehung sehr selten vorkommen. Die Möglichkeit einer offenen Aussprache und die Erfahrung, dass sich die PsychotherapeutInnen ehrlich kümmern und sorgen, lassen die Suizidalität zumeist deutlich abklingen. „Wachsen und Dazu-gehören – Grundmotivationen des Lebens“ (Gerald Hüther).
Die Bearbeitung des aktuellen Konflikts hat oberste Priorität. Das Schaffen kleiner überschaubarer Schritte zur Problembewältigung und Selbstvertrauen geben Hoffnung für die nächsten Zukunft. Gefördert wird in dieser Hinsicht die Übernahme von Verantwortung für das eigene Tun und Handeln.
Auch sind die entsetzlichen Auswirkungen der Suizidtat an die Hinterbliebenen dem Suizidgefährdeten bewusst zu machen, z. B. die Hypothek besonders an nahe Angehörige und FreundInnen – aber auch die negative Vorbildwirkung an andere Menschen in suizidalen Krisen!
„Der Selbstmord ist zwar todesmutig, aber er ist lebensfeig .“
(Viktor E. Frankl)
„Blosse Gegebenheiten könnte man aus der Welt schaffen, wenn sie sich als unpassend erweisen, aber das einem Aufgegebene kann man nur erfüllen oder nicht erfüllen, und beides bleibt in der Welt, die eigene Leistung genauso wie das eigene Versagen. Es ist tatsächlich ähnlich wie beim Selbstmörder, der auch niemals ein Problem löst oder das Negative, das ihn belastet, aus der Welt schafft, sondern immer nur sich selbst aus der Welt schafft, und das ungelöste – von ihm ungelöste – Problem, die Last des Negativen in der Welt zurück lässt… Ein Soll ist nicht zum Sein gekommen.“ (Lukas 1989, S 145 f)
Depressive Reaktionen
„Selbstmordfantasien sind die letzte Hoffnung, wenn alle anderen Mittel
die Bürde des Alleinseins nicht erleichtert haben.“
(Erich Fromm)
Die depressiven Neuerkrankungen bei jungen Menschen zwischen 15 und 25 Jahren (gerade in den Städten) bringen uns Frankls Gedankengut sehr nahe: Verlust an inneren, haltgebenden Kräften, wie traditionelle Werte, kulturelle Üeberlieferungen, geistige Ideen – wo die Wertigkeit des Habens zu viel an Bedeutung einnimmt und Einsamkeit im Gedränge entsteht. Die leichter werdende Konsumierbarkeit durch die Medien haben auch eine zunehmende körperliche Inaktivität zur Folge. Das Übermass an Bildern in den Medien regt nicht zu eigenem Handeln an, kann kaum für eine Aktivität wirklich begeistern. Das Wahrnehmungsleben ist sensationell, rast von einem Höhepunkt zum anderen, nur das wirklich gelebte Leben wird ärmer, eintöniger, langweiliger, sinnlos. Die einsetzende, lähmende Schwermut zieht das Wollen, Fühlen und Denken in die Tiefe. Selbstmordabsichten kommen allein aus dem Inneren. Zunächst erschrecken sie noch, dann können diese Gedanken für depressive Menschen in jedem Alter als der letzte und einzige Ausweg erscheinen.
Permanente Misserfolgserlebnisse im schulischen Bereich, das Scheidungsklima der Eltern, die fehlende Möglichkeit sich aussprechen zu können, tun das Übrige um der Auslöser für suizidale Handlungen zu sein. Für Jugendliche gilt ebenso wie für Erwachsene das Konzept des präsuizidalen Syndroms nach Erwin Ringel (Einengung: situativ, dynamisch, Einengung der Wertewelt und der zwischenmenschlichen Beziehungen; gehemmte und gegen die eigene Person gerichtete Aggression; Selbstmordfantasien).
Die situative Einengung tritt bei Jugendlichen allerdings sehr viel rascher ein. Bei dieser Einengung geht es im Jugendlichenalter auch um eine Aktions- bzw. Symbolsprache, die mehr von der emotionalen als von der intellektuellen Seite geprägt ist. Suizidhandlungen gelten oft als Appell einem „signifikanten Anderen“. Um Suizide zu verhindern, ist es notwendig, die Gleichgültigkeit gegenüber dem, was andere Menschen bewegt, zu überwinden. Ein geplanter Suizid ist meist ambivalent – dem „signifikant Anderen“ nur angedeutet. Diese Andeutungen sind aber essentiell für die Suizidprävention. Der Satz „keiner versteht mich“ in Verbindung mit „denen werde ich es zeigen“ und dem „Tom-Sawyer-Syndrom“, „wenn ich nicht mehr bin, dann werden sie schon sehen, welches Verlusterlebnis sie haben“, sind Ausdruck der Gemütslage präsuizidaler (junger) Menschen. Der Volksmund irrt, wenn er glaubt: „Menschen, die von Suizid sprechen, führen ihn auch nicht aus.“
Raphael, 15 Jahre alt, war ein begeisterter Fussballer, - vor dem Fernseher. Als seine Eltern sich trennten, als sein Weiterkommen im Gymnasium gestoppt war, (Wiederholung der Schulklasse) war für ihn das Erhängen in der neuen Wohnung seines Vaters (er hatte die Familie verlassen) ein klares Zeichen – Angriff.
Kain stellte die Frage: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ – in der Psychotherapie ist diese Frage zu bejahen. Erwin Ringel illustriert dies bestens an einem Beispiel: Als er als junger Assistent das Büro der überlasteten Sekretärin betrat, begegnete er einer jungen Ärztin, die gerade eine Krankengeschichte diktierte. Sie blickte Ringel an und bat ihn hinaus zugehen, da sie die Farbe seiner Krawatte nicht aushalte. Zwei Wochen danach hatte sich seine Kollegin das Leben genommen. Jahre später machte Ringel darauf aufmerksam, dass bei Suizidalen kurz vor ihrem gewaltsamen Ende ein „Farbschock“ auftrete.
Dominik, 15 Jahre, hielt die Farben in seinem Klassenzimmer nicht mehr aus (orange), bevor er sich beim Wanderausflug seiner Schulklasse vom Gipfel stürzte. Schwer verletzt konnte er gerettet werden. Zuerst fiel er schon seiner Klassenlehrerin durch Ritzen auf. Engagierte Kontakte mit den Eltern waren wenig fruchtbar. Bis zu diesem Suizidversuch.
Im wiederbelebten Trotz werden von den jungen Menschen sichtbare Zeichen gesetzt, bis hin zu Selbstverletzungen, Selbstverstümmelungen und Suizidversuchen.
Das alarmierendste Anzeichen von Gefährlichkeit tritt zu Tage, wenn es zur Aggressionsumkehr kommt und nach einer Phase der Ruhe vor dem Sturm eine explosionsartige Antwort auf das vermeintliche Unverständnis der Bezugspersonen und der Umwelt folgen kann.
Dann setzt zumeist die suizidale Handlung ein, sei sie para- oder suizidal – dies gilt es zu verhindern. Oft hilft – wie bereits erwähnt – das aktive Zuhören, der notleidende Jugendliche ist dann nicht mehr „mutterseelenallein“. Suizidale Krisen im Jugendlichenalter haben häufig unbewusste Konflikte als Auslöser.
Theresa, 17, wollte gemeinsam mit ihrem Freund Kevin, 17, einen Doppelsuizid begehen, beide überlebten. Zum Glück sind gemeinsame Selbstmorde seltene Phänomene, auf etwa ein tausend Selbstmorde kommen etwa 14 Doppelsuizide. Manche gingen in die Geschichte ein: Kronprinz Rudolf und Mary Vetsera. Aber auch Stefan Zweig mit seiner zweiten, jungen Frau Lotte, im brasilianischen Exil – Stefan Zweig beschäftigte sich schon davor ausführlich in seinen Werken mit dem Suizid, viele seiner Hauptfiguren erwägen ihn als Problemlösung.
Theresa, die in einer symbiotischen Beziehung zu Kevin stand, stimmte dem gemeinsamen Tod zu, da sie von den Eltern von Kevin nicht als die „richtige“ Freundin akzeptiert werden konnte (aus zu armem Hause). Der gemeinsame Tod sollte sie vor der Zerstörung durch das Elternhaus von Kevin bewahren – und beide könnten sich mit dem gemeinsamen Sterben die unendliche Liebe „beweisen“.
Psychotherapie der Depression mit Suizidalität im Kindes- und Jugendalter
„Wer eine Krise durchschaut, unterscheidet.
Wer unterscheidet, erwirbt die Voraussetzung, zu entscheiden.
Wer entscheidet, löst Krisen, indem er Stellung bezieht.“
(Dieter Lotz)
Ob bewusst oder unbewusst, fragt jeder Mensch nach Sinn. Die Wertevermittlung beginnt im Erlebnisbereich.
Warnzeichen für ein Suizidrisiko bei Kindern und Jugendlichen
(nach Kerns 1997)
Verhaltensänderungen ( ein geselliges Kind zieht sich zurück)
Vernachlässigung des eigenen Aussehens
Sozialer Rückzug, Isolation
Verschenken von persönlichen Wertgegenständen
Starke Beschäftigung mit dem Thema Tod
Offene oder verhüllte Suizidabsichten
Vorangegangene Suizidversuche
Gedankliche Auseinandersetzung mit Suizidmethoden
Übermässiger Konsum von Alkohol und Drogen
Schulversagen
Plötzlich gehobene Stimmung
Häufige Unfälle
Davonlaufen, Ausreissen
In der psychotherapeutischen Arbeit mit Kindern vor und nach dem zwölften Lebensjahr gibt es grundsätzliche Unterschiede:
Kinder unter 12 Jahren
Im Vordergrund steht die kognitive Unreife und Impulsivität. Suizidgedanken gehen mit Wahrnehmungen von Gefühlen der Ausweglosigkeit und Schuld einher, die Kinder zeigen ein Bild von Aggressivität und leichter Irritierbarkeit. Familiäre und schulische Konflikte sind dabei der grösste Risikofaktor, etwa disziplinäre Probleme und Mobbing in der Schule oder Auseinandersetzungen innerhalb der Peergroup.
Eine Hospitalisation ist bei Suizidalität immer dann angezeigt, wenn das Kind aus der konflikthaften Situation herausgenommen werden muss. Suizide sind in Österreich bei Kindern unter 14 Jahren sehr selten, (0,3/100.000) – ähnliche Daten in der Schweiz. Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen (15 bis 24 Jahre) beträgt die Suizidalität insgesamt 13,0/100.000. Mädchen wollen sich drei Mal so oft das Leben nehmen wie Jungen. Demgegenüber führt der Suizidversuch bei den Jungen drei Mal häufiger zum Tod als bei den Mädchen. Männliche Jungendliche greifen zu „härteren“ Mitteln, wie z.B. Tod durch Erhängen, Erschiessen oder sich vor den Zug werfen. Sie wollen den Suizid „durchziehen“, reine Versuche sind seltener zu finden. Suizidversuche von Mädchen und Frauen hingegen zeigen oft einen deutlichen Appellcharakter und sollen nicht zwangsläufig zum Tod führen (Parasuizid).
„Eigentlich bin ich ganz anders, ich komme nur so selten dazu.“
(Ödön von Horvath)
Die 16jährige Josephina hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten, aber noch rechtzeitig die Eltern angerufen. Sie litt an zahlreichen körperlichen Beschwerden. Sie hatte Ängste und starke Kontrollbedürfnisse. Sie hatte „alles“ und konnte doch nicht froh sein. Massive Schuldgefühle machten sich breit, „da andere weniger hatten“. Auf dem Bauernhof nebenan fühlte sie sich am wohlsten, nur dies wurde von ihren Eltern nicht gerne gesehen, denn dann „stank sie nach Stall“ – und sie sollte besser ihre vierte Fremdsprache üben, Russisch ist für die Osterweiterung wichtig, dies wusste ihr erfolgreicher Vater - bis zum Selbstmordversuch von Josephina. Er verstand den Appell seiner Tochter, war tief erschüttert. Als der Nachbarbauernhof ukrainische Flüchtlinge aufnahm, verbesserten sich die Russisch-Kenntnisse von Josephina schlagartig – sie bestand darauf, dass die junge Familie mit ihr ausschliesslich Russisch sprach, sie mit ihnen als Revanche Deutsch. Die Spontanheilung - keine Überraschung! Enthusiastisches Interesse, Begeisterung, beschwingte Stimmung erzeugt in der Arbeit nebenbei Freude und hauptsächlich geistige Gewandtheit, Flexibilität, Kreativität. Mit einer grösseren Leichtigkeit erreichen wir ein Maximum an Effizienz, Geschwindigkeit, wir leben unsere Aufgaben als Herausforderungen, werden ihnen gerecht. Ein Quentchen Druck (Lampenfieber) erhöht die Konzentration und die Motivation.
In stark belasteten Situationen haben Menschen drei Möglichkeiten zu reagieren: Angriff, Flucht, Erstarrung. Der Auslöser für einen Suizid wird klar von dem Grund für diese Entscheidung unterschieden. Wenn ein Scheitern in der Schule, im Beruf, in der Liebesbeziehung der Auslöser ist, die Fantasie des Selbstmordes in die Tat umzusetzen, so liegt der Grund tiefer und ist gekoppelt an die Lebensgeschichte des jungen Menschen und deckt z. B. seine Abhängigkeit, seine pyramidale Wertanordnung (ein Leitwert wird zum Leidwert) auf, seine Minderwertigkeitsgefühle.
Auch sind Kulturunterschiede nicht zu übersehen. Auch zwischen Nordamerika und Europa. Ich habe seit Jahren immer wieder junge amerikanische, kanadische Frauen, die im Austauschprogramm in Europa von jungen Männern vergewaltigt werden. Zum Glück gibt es die alte Studie, die Paul Watzlawick veröffentlichte, dass das Paarungsverhalten zwischen Nordamerika und Europa unterschiedlich, daher missverständlich, verläuft. In beiden Kulturen gibt es etwa 30 Stufen bis zum intimen, metaphysischen Zusammensein. Nur: Küssen kommt in Nordamerika auf Stufe 5 und in Europa auf Stufe 25!
Anne, 17 Jahre alt, Austauschschülerin aus Los Angeles, hatte nach intensivem Küssen ihren Nachbar, 23, in seine Wohnung begleitet. Ihr wildes Wehren fand der attraktive Schilehrer sehr „rassig“ – er verstand auch ihre klaren Zeichen nicht. Anne erlebte es als Vergewaltigung. Es war ihr erster Mann. Sie war zu diesem letzten Schritt innerlich noch nicht bereit.
Wieder-Einstieg in das Leben – logotherapeutische Ansätze
„Vom Haben loslassen kann nur einer,
der im Sein zu Hause ist.“
(Elisabeth Lukas)
Tief in uns ist - wenn vielfach auch unbewusst - verwurzelt - dass wir mit unserem genetisch angelegten Potential in unserer Welt etwas bewirken, positive Spuren hinterlassen möchten, etwas das Bestand hat und sinnvoll ist.
Jeder Einzelne kann durch (meist mutige) Entscheidungen und reale Taten und viel Ausdauer die Weltgeschichte, wenn auch vielleicht nur im ganz Kleinen, verändern! Junge Menschen sehnen sich häufig danach, einen besonderen Lebensweg einzuschlagen, der die Einzigartigkeit in der Persönlichkeit zum Ausdruck bringt. Jugendliche müssen sich verwirklichen, im positiven Wirken in dieser Welt. Sinnvoll zu leben, Sinnvolles zu gestalten zählt zu den grundlegendsten Motiven des Menschen.
In seiner Antrittsrede 1994 erinnert uns Nelson Mandela, dass unsere tiefste Angst nicht die Dunkelheit ist, sondern dass wir über unser Licht erschrocken sind. Nur es braucht die Lichtkraft der geistigen Erkenntnis, um über die dunkle Schwere hinweg zu helfen, die den Suizid möglich macht.
Franca, 16 Jahre, war eine „gescheiterte Existenz“ (wie sie sich nach dem Suizidversuch, nach dem Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik, bezeichnete). Die Eltern hatten ihr nach ganz viel Mühe eine „saubere“ Arbeit im Büro vermittelt. Jeden Tag fuhr sie mit Angst zur Arbeit, - dass diese Firma sehr angesehen war, konnte sie nicht trösten. „Dass das Arbeitsleben hart ist“ (Aussage der Eltern) verstärkte ihren Willen noch mehr, so nicht weiterleben zu wollen/zu können. Auf Grund der Psychotherapie wechselte sie in den Beruf. „Malerin und Anstreicherin“ – ganz unweiblich für diese junge, attraktive Frau. Sie wurde nach dem „Schnuppern“ sofort angestellt. Mit viel Freude fährt sie nun täglich den weiten Weg zur Arbeit (eine Strecke von fast 60 min) – im Zug. Während der Fahrt möbelt sie ihre Italienisch-Kenntnisse auf, da sie mit vielen italienisch sprechenden KundInnen Kontakt hat.— Wenn uns Begeisterung entzündet, ist kein Weg zu weit.
Naturwissenschaftliche Erkenntnisse belegen, dass sich auf unsere Arbeitsleistung folgende Faktoren besonders NEGATIV auswirken:
Wachsende Angst reduziert unsere Fähigkeiten.
Je stärker der Druck, desto mehr leidet das Leistungs- und Denkvermögen, wir sind behindert im flexibel und kreativ reagieren, können nicht mehr so effektiv planen und organisieren.
Sind wir von Ärger, Kummer, Groll ergriffen, gerät unsere geistige Beweglichkeit ins Stocken.
Extremzustände von Angst, Wut, aber auch von Traurigkeit reduzieren die Fähigkeit unseres Gehirns.
Auch Langeweile, Sinnloses lässt unsere Motivation schwinden.
Schlecht gelaunte Lehrende haben eine negative Ansteckung, zusätzlich konzentrieren sie sich mehr auf Fehler. Emotionale Bedrängnis erstickt unsere Leistungsfähigkeit.
Roland, damals 15 Jahre, war Sozialwaise, war fremd untergebracht, - und gescheitert in der Schule. Seine drogenabhängigen Eltern konnten nicht für ihn sorgen. Vor über 20 Jahren kam er nach einem gescheiterten Suizidversuch in Psychotherapie. Er war ein „Hundeflüsterer“. - die Arbeit im Tierheim „heilte“ ihn. Es brauchte nur ein Jahr, bis er wieder seine Leidenschaft für seinen Schulabschluss fand. Inzwischen ist Roland Tierarzt, verheiratet, hat mit seiner Frau drei Kinder, alle sorgen sich u. a. Um zwei Hunde, eine Katze, ein Pferd und drei Meerschweinchen.
Rückgewinnung des Urvertrauens..
..durch Stärkung des authentischen Ichs („Werde, der du bist!“) ist essentiell in jeder Psychotherapie, ob für junge Menschen – oder über 17jährige.
„Das Urvertrauen fusst ja auf der Annahme, dass das An-sich-Gute und das An-sich-Sinnvolle gewusst und gekannt ist von höherer Warte aus, dass es aufgehoben und aufbewahrt ist im ´Guten-an-sich‘ (Elisabeth Lukas, in „Urvertrauen gewinnen“, S 51f)
Selbstverantwortung
Betonung des eigenen Freiraumes, es kommt auf einen selber an, die jeweilige Situation kann selbst gestaltet und verbessert werden, Einstellungswerte bei schicksalshaften Bedingungen, Beziehungen pflegen, aber auch allein- (all-eins) sein lernen.
Selbsttranszendenz
Fragen, die ins Leben drängen, proaktiv (statt reaktiv) beantworten: Zieht mich etwas Faszinierendes an? Etwas Notwendiges, was von mir jetzt beantwortet werden soll? Welche Fragen drängen in mein Leben?
Motivation zum Leben, das Wofür erarbeiten
MUT ist das Gegenteil von Schmermut. Mit Herzensmut können sich junge Menschen wieder dem Leben zuwenden. Mut erlaubt uns, wieder auf die Welt zuzugehen. Hilfreich können auch die Fragen sein: Was ist meine tiefste Angst? Was war das, was ich schon immer machen wollte, was mir schon immer wichtig war?
Mögliche Fragestellungen – immer sehr genau beschreiben lassen, damit die PatientInnen ein inneres Bild dazu bekommen, damit sie es schneller abrufen können – insgesamt ein Wahrnehmungstraining – mehr auf das Heilende, Dankbare im Leben zu achten: Welche Aufgabe würde mir ganz viel bedeuten? Wofür ist es höchste Zeit?
Ich wusste nicht, dass es unmöglich war, deshalb habe ich es getan.
(Jean Cocteau)
Die bewusste Auseinandersetzung mit dem Tod – nicht nur für unsere KlientInnen – unsere Einstellung zum Suizid ist essentiell. Bei jungen Menschen zeigen sich die Ablehnung des Lebens, eventueller Selbstmord, und die hohen Ziele des Lebens sehr deutlich. Nachahmung aus der Säuglingszeit, später verstärkende Autorität sind vorbei, der junge Mensch will mit seiner Urteilskraft selbst etwas Wertvolles in die Welt einbringen. Der junge Mensch soll sich der Welt öffnen, mit den Möglichkeiten, die sie ihm in all der Fülle reich anbietet. Über tragende Erlebnisse kann des weiteren das Urvertrauen gefestigt werden. Eine sensible Begegnungsfähigkeit ist unser Ziel in der Psychotherapie, u. a. als Suizidprävention. Junge Menschen fragen nicht direkt danach, was sie Sinnvolles in unsere Welt einbringen könnten. Bei ihnen ist es noch projektiver:
Wie empfinde ich unsere Erde?
Welche Ausbildung könnte passen?
Mit welchen Menschen möchte ich zusammenleben?
Darin lässt sich ihre positive, schöne Kraft erspüren – diese bei beschwerten jungen Menschen wieder frei zu legen ist Ziel der Psychotherapie.
Uwe Böschemeyer betont, dass Erfolg nicht automatisch sein muss, manchmal sich beschwerlich anfühlt. Die innerliche Polarität von Lebensbejahung und Lebensverneinung, die Angst zu scheitern kann uns daran hindern, wichtige Entscheidungen zu treffen, Neues zu wagen, das Verweilen im Alten, Gewohnten gibt Sicherheit.
„Alles wandelt sich.
Neu beginnen, kannst du mit dem letzten Atemzug.
Aber was geschehen, und das Wasser, das du in den Wein gossest,
kannst du nicht mehr herausschütten…
Alles wandelt sich.
Neu beginnen kannst du mit dem letzten Atemzug.
(Bertold Brecht, 1898 – 1956, deutscher Dramatiker, Lyriker)
Die Mutter von Claire, 15 Jahre alt, hatte wieder geheiratet und neben dem Stiefvater auch noch ein 15jähriges Mädchen in die „zuvor glückliche“ (Aussage der Klientin) Familie gebracht. Eifersucht und tiefe Wut motivierten Claire, sich in der Firma des Stiefvaters die Pulsadern aufzuschneiden. Sie wurde vom Reinigungspersonal gefunden und rechtzeitig in die Klinik gebracht. Wut und Zorn sind häufig gemischt mit Trauer und Verzweiflung. Claire konzentrierte sich vor der Psychotherapie besonders auf Verurteilen und Angriff und Kritik.
Die im Ärger, Wut, Hass, Zorn bleibende Person hat die Tendenz zur Generalisierung: Alle in der Familie sind böse, immer…. –
Ausnahmen, gelingende familiäre Beziehungsqualitäten, werden nicht mehr oder schwerer wahrgenommen.
Die sich selbst erfüllende Prophezeiung setzt ein. Durch ein Steckenbleiben im Zorn, in der Wut verstärkt sich das eigene Ohnmachtsgefühl.
Auch junge Menschen haben die grosse Sehnsucht nach Ganzheit, Geborgensein in etwas uns Üeberschreitendes. Fühlen Menschen sich nicht gewollt, geliebt und getragen im Leben, entsteht nicht nur emotioneller Stress, es entsteht existentieller Stress – sie leben dann nicht - das spezifisch Humane – sie leben dann gegen ihr eigenes Wesen.
WUT, ÄRGER ÜBER UNS SELBST
„Die Unfähigkeit die Dinge auf die Reihe zu bringen“
Existentieller Stress: Sinnvakuum
Ausstieg: Auf Sinnsuche gehen – was könnte ich in dieser Welt verwirklichen?
WUT, ÄRGER ÜBER ANDERE
„sich den anderen ausgeliefert fühlen“
Existentieller Stress: Ohnmachtsgefühle
Zurück in den eigenen Freiraum, welche Möglichkeiten stehen offen, finale Vorleistung (ich setze den ersten Schritt – absichtslos – weil ich mit meiner inneren Grösse Kontakt habe, mich von anderen Menschen nicht so abhängig mache – Gutes bleibt gut – es wirkt in die Welt.)
Die Person muss die Hyperreflexion stoppen – „ich muss mir von mir selbst nicht alles gefallen lassen!“ (Viktor E. Frankl)
Wer fliegt mein Flugzeug? (Metapher von Elisabeth Lukas)
Körper – Karosserie, Psyche – Gefühle, Geist – PilotIn
Ich muss meinen Gefühlen nicht erlauben, dass sie mein Flugzeug fliegen – ich bin der/die PilotIn.
Wer reitet mein Pferd? Hat meine Wut die Zügel in der Hand? Erlebe ich mich als Opfer?
Dies muss nicht so sein! – Wir sind die HerrInnen über unsere Gefühle. Ausstieg: Gedanken-Stopp – im Hier und Jetzt sein – um den Sinn des Augenblicks (was ist jetzt sinnvoll, not-wendig zu tun?) überhaupt erst spüren zu können. Das Gewissen befragen!
„Nicht die Dinge beunruhigen die Menschen,
sondern ihre Meinung über die Dinge.
Wenn wir also auf Schwierigkeiten stossen,
in Unruhe und Kümmernis geraten,
dann sollen wir die Schuld niemals
auf einen anderen schieben,
sondern nur auf uns selbst,
das heisst,
auf unsere Meinung von den Dingen.“
Epiktet (antiker Philosoph, ca. 50/60 – 130)
Jede Minute entscheidet, was unser Leben IST, damit wird entscheiden, was einmal gewesen sein wird! Die Zeit fliesst nicht an uns vorbei, sondern wir sind Gestalter – nicht Opfer – unserer Zeit! „Vollendet“ haben ist nicht unser primäres Ziel – sondern etwas vollbringen, bewirken, etwas in Bewegung setzen, positive Spuren hinterlassen, …
Welche Lebensthemen beschäftigen mich im Moment am meisten? Bringen sie eine Saite in mir zum Schwingen? Lebe ich noch, oder bin ich schon ein bisschen tot - gefangen, in Wiederholungszwängen?
Wie kann ich wieder Im-Einverständnis-Sein mit der Wirklichkeit?
Das Paradies ist kein Ort, sondern eine Geisteshaltung.
(N. Peseschkian, 1933 – 2010, Begründer der Positiven Psychotherapie)
Ein Fall, viele Fälle?
Ein abschliessender Nachdenkimpuls für professionelle HelferInnen
Ein Fall, viele Fälle.
Von Fall zu Fall verschieden
besprechen wir unterschiedlich lang
einen Fall.
Fallengelassene wenden sich
Aufrichtenden zu,
um nicht auf der Strecke zu bleiben.
Hingefallene strecken sich
nach Hochziehenden,
um nicht zu Hinterlassenen zu werden.
Von Fall zu Fall fallen auch wir
einfallslos in dunkle Löcher der Hilflosigkeit.
Falls wir fallen:
wer redet dann wie über uns
als Fall
und:
wer richtet uns auf
im Falle eines Falles?
[Dieter Lotz]